„Die Sinnende“ – über Ingeborg Hunzinger und ihre Kunst

 

Der April-Vortrag 2017 war dem Leben und Schaffen der großen deutschen Bildhauerin Ingeborg Hunzinger gewidmet. Vortragende war Claudia Maria Franck, eine Enkelin der Künstlerin. So war, das sollte sich schnell erweisen, auch eine persönliche und vor allem mit vielen lebendigen Dokumenten gespeiste Erzählung verbürgt. Es war übrigens der erste originäre Vortrag über diese Künstlerin, obwohl wir schon einiges über Ingeborg Hunzinger berichtet hatten.

Frau Franck stellte eine erstaunlich facettenreiche Biografie vor, die sich in 4 Blöcke ordnen ließe:

Ausbildung und künstlerische Selbstfindung, erste Lebenserfahrungen in den faschistischen Systemen Italiens und Deutschlands

Entscheidung für die DDR, Kunst im Sozialismus

Zwischenbilanz und Neuorientierung

Das Spätwerk

 

 

Ausbildung und künstlerische Selbstfindung, erste Lebenserfahrungen in den faschistischen Systemen Italiens und Deutschlands

Ingeborg Franck, geboren 1915, wuchs in einem großbürgerlichen und künstlerisch orientierten Hause auf. Ihr Großvater war der Maler Philipp Franck – Impressionist, Sezessionist und Liebermann-Freund; ein Maler auf Augenhöhe mit Walter Leistikow, Lovis Corinth und Max Slevogt, dessen Bedeutung für die Berliner Kunstgeschichte auch erst in den letzten Jahren festgestellt wurde.

Der Wannsee, 1914, Öl auf Leinwand, 125 x 125 cm

Philipp Franck, Der Wannsee. 1914

 

Ihr Vater Hans-Heinrich Franck war Chemiker, die Familie lebte in Westend. Kurz vor dem Abitur vom Gymnasium relegiert, begann Ingeborg eine Ausbildung an der Kunstakademie Berlin-Charlottenburg, die sie nach zwei Jahren wegen ihrer politischen Überzeugung, aber auch wegen der jüdischen Herkunft ihrer Mutter, abbrechen musste. Sie wechselte nach Franken, wo sie ihre Lehre als Steinmetz-Gesellin abschloss. Von 1938 an arbeitete sie ein Jahr im „Atelierhaus in der Klosterstraße“, das der damals wohlbekannte Bildhauer Ludwig Kasper führte. Zu den Künstlern, die sie dort kennen lernte, gehörte unter anderen Käthe Kollwitz. Da sie Jüdin war, siedelte sie 1939, bedrängt von den Nazis, nach Italien um. Dort traf sie auf den Hallenser Maler Helmut Ruhmer, mit dem sie einen gemeinsamen Lebensabschnitt begann. Oberitalien, insbesondere Florenz, brachte für Ingeborg Franck eine künstlerische Erweckung: sie sah viele Arbeiten von Michelangelo und nahm sie für sich als künstlerisches Vorbild an.

'David'_by_Michelangelo

Michelangelo, David

 

Mit Ruhmer geht sie anschließend nach Sizilien, um dort zu arbeiten und zu leben. Sie liebte es, schnelle Aquarelle anzufertigen.

Hunzinger, Sizilien II

Sizilien II

 

Aber 1943 kehren sie zurück nach Berlin: Ruhmer muss in Deutschland für die Wehrmacht bereit stehen, andererseits war die Situation in Sizilien nicht übermäßig ertragreich. Ingeborgs Vater ist über die Rückkehr nicht erfreut: er muss seine jüdische Frau vor den Nazis schützen, nun kommt seine jüdische, inzwischen schwangere Tochter, noch hinzu. Ruhmer und Ingeborg ziehen in den Schwarzwald, konkreter gesagt den Hotzenwald, den südlichsten Zipfel des Schwarzwaldes; eigentlich: an das Ende der Welt. Dort werden 1943 und 1944 die gemeinsamen Kinder Anna-Katharina und Gottlieb geboren. Zum Kriegsende wird Helmut Ruhmer noch in die Wehrmacht eingezogen; er fällt nach zwei Wochen an der Ostfront. Es entsteht eine unfassbare Situation für Ingeborg Franck. Sie hat die Liebe ihres Lebens verloren, konnte wegen der faschistischen Rassegesetze nicht heiraten und lebt nun fernab der Familie mit zwei Kleinkindern.

Entscheidung für die DDR, Kunst im Sozialismus

Dennoch bleibt sie zunächst dort. Sie engagiert sich nun politisch und wiederbelebt die KPD in der Bodensee-Region. Die Partei beauftragt sie, in Baden politisch aktiv zu sein. Geld verdient sie mit Töpfern. In der politischen Arbeit lernt sie Adolf Hunzinger kennen, einen ehemaligen Spanien-Kämpfer. 1949 gehen beide nach Ost-Berlin. Ingeborg, inzwischen 35 Jahre alt, widmet sich wieder der künstlerischen Arbeit. Sie wird Assistentin bei Drake und dann Meisterschülerin bei Cremer und Seitz. Ein Beispiel der Werke aus den 1950er Jahren steht in Friedrichshagen im Müggelpark direkt am Müggelsee: Vater mit Kind auf den Schultern.

Hunzinger, Mann mit Kind auf der Schulter

Vater mit Kind auf den Schultern, 1958

 

Diese und die anderen Plastiken im Müggelpark waren und sind bei der Bevölkerung beliebt: es war völlig unideologische Kunst, die sich dem Zusammenleben junger Familien widmete. Und es war eine Problematik, die Ingeborg Hunzinger (verheiratet seit 1955) aus  eigener Erfahrung kannte.

In den 1960er Jahren verdiente sie den Unterhalt für die Familie durch Werkverträge mit Betrieben und Kommunen. Es entstanden Arbeiten für die Leuna-Werke, das Funkwerk Köpenick, das Fotochemische Werk und andere Einrichtungen in Berlin und Bezirken der DDR. Ein Werk für das Fotochemische Werk trägt den versprechenden Namen „Mensch und Strahlung“.

Mensch und Strahlung. Bronze, 1969

Mensch und Strahlung, 1969

 

Der Spätsommer 1968 beginnt für Ingeborg Hunzinger, das hebt Enkelin Claudia Maria Franck hervor, mit einer einschneidenden Veränderung  in ihrem Leben: die jüngste Tochter beteiligt sich an Protesten gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in die CSSR. Gerade in die 12. Klasse versetzt, wird sie von der Erweiterten Oberschule relegiert – die Mutter muss sich dafür verantworten.

Drei Jahre lang wird Ingeborg Hunzinger auf Aufträge und Verträge verzichten, sie muss sich ihren Lebensunterhalt privat verdienen. Dazu kommt eine Parteistrafe. Bald darauf verlässt die jüngste Tochter die DDR. 1968 heiratet sie noch ein Mal (von Adolf Hunzinger hatte sie sich bereits getrennt), aber ihr Mann, der um einige Jahre jüngere Bildhauer Robert Riehl, den sie schon aus Meisterschülerzeiten kannte, stirbt bereits 1976.

Zwischenbilanz und Neuorientierung

Die 1970er Jahre sind also ein Umbruch für Ingeborg Hunzinger. Sie überprüft ihre eigene politische Position und ihr künstlerisches Schaffen. Die Künstlerin geht inzwischen auf die 60 zu – es wird Zeit für das Alterswerk.

Zunächst lässt sie sich jedoch für die künstlerische Ausstattung der Ost-Berliner Großsiedlungen gewinnen. Sie gehört, so die Aussage einer zeitgenössischen Zeitung, „zu den zehn Künstlern des Konzeptionskollektivs für das Neubaugebiet Berlin-Marzahn. Im Auftrag des DFD-Bundesvorstandes werden für die dortigen Wohngebiete Gemälde, Wandbilder und Plastiken geschaffen, die sich vorwiegend mit dem Thema Familie und Kind auseinandersetzen“. Neben der konzeptionellen Arbeit steuert Hunzinger 5 eigene Werke bei:

Paar, Erholungspark Marzahn

Jugend – Älteres Paar, Schragenfeldstraße 21

Frauen, Allee der Kosmonauten/Marchwitzastraße

Die Geschlagene, Die sich Aufrichtende, Der sich Befreiende, Freizeitforum  Marzahn

Und: Die Sinnende.

 

Zur „Sinnenden“ hat uns Claudia Maria Franck Material zur Verfügung gestellt, das wir hier exklusiv vorstellen können.

„Die Sinnende“ – bemerkenswerte Fakten

Diese uns allen so vertraute Figur trägt anfangs den Titel „Die Besinnliche“. Sie entsteht im Mai/Juni 1976 bei einem Bildhauer-Symposium in Reinhardtsdorf. Dieses Dorf in der Sächsischen Schweiz verfügt über einen Steinbruch mit Naturstein, der als Reinhardtsdorfer Sandstein bekannt ist. An diesem Symposium mit Beteiligung polnischer und rumänischer Künstler nahm auch Karl-Günter Möpert teil, einer der beiden Schöpfer des „Denkmals für die Erbauer Marzahns“. In einem Material schreibt er: “Symposien dieser Art tragen dazu bei, dass der Naturstein, der ja ein uraltes Gestaltungsmaterial ist, wieder mehr Beachtung bei der Gestaltung künstlerischer Vorhaben gewinnt. Angst und Befangenheit bei der Bewältigung des Materials werden abgebaut, weil der handwerklich erfahrene Kollege dem unerfahrenen Kollegen seine Erfahrungen uneingeschränkt mitteilt.“ Hier sehen Sie Fotos aus Reinhardtsdorf:

Sinnende_Hunzinger

Ingeborg Hunzinger im Kreis von Kollegen

 

Besinnliche im Steinbruch

„Die Besinnliche“ im Steinbruch

 

„Die Besinnliche“ wird im Spätsommer 1976 in Kaulsdorf Nord aufgestellt, an der damaligen Kaufhalle im Teterower Ring; im heutigen Bereich des Spreecenters.

Sinnende am Standort Kaufhalle Kaulsdorf                Sinnende am Standort Kaufhalle Kaulsdor

„Die Besinnliche“ am Standort Teterower Ring

 

Im Sommer 1978 gelangt die Plastik in die Ausstellung „Plastik und Blumen“ in Berlin-Treptow. Dort muss bei Verantwortlichen die Kenntnis gereift sein, dass die Figur in einem landschaftlichen Umfeld besser aufgehoben ist.

Sinnende_Plastik und Blumen Treptow 27_8_1978

„Die Besinnliche“ im Sommer 1978 in Berlin-Treptow (Foto: Sonntag, 27.8.1978)

 

Von Treptow ist die Figur ganz offensichtlich nicht nach Kaulsdorf Nord zurückgekehrt. Sie wird unter dem neuen Namen „Die Sinnende“ 1980 am heutigen Standort im Schlosspark Biesdorf aufgestellt.

Sinnende im Park

„Die Sinnende“ im Schlosspark Biesdorf

 

„Die Sinnende“ deutet ganz nachdrücklich einen Wandel des künstlerischen Ausdrucks bei Ingeborg Hunzinger an. Die Figur bleibt im Stein, sie „entblößt“ sich nicht, bleibt verborgen und will zugleich entdeckt werden. Im Gegensatz etwa zu „Vater mit Kind“, wo die Aussage klar und eindeutig ist, kann man mit der „Sinnenden“ in einen Dialog treten – mit ihr reden, sie berühren und sie aus verschiedenen Positionen betrachten. Damit wird Hunzingers Kunst interessanter und vieldeutiger. Sie hat mit der „Unvollendeten“, die im Kleinen Spreewaldpark in Schöneiche steht, eine verwandte Skulptur geschaffen.

Die_Unvollendete_Schöneiche, Kleiner Spreewaldpark

Die Unvollendete, Jahr unbekannt

 

Das Spätwerk

Mit der „Sinnenden“ und der „Unvollendeten“ sieht sich Ingeborg Hunzinger gut gerüstet für das Alterswerk. Was der wesentliche Bestandteil dieses Werkes sein sollte, hat sie ebenfalls in dem erwähnten Zeitungsartikel formuliert: Sie will den Aufrichtigen, denen, die eine Überzeugung haben und denen, die helfen, ein Denkmal setzen. „Das ist für mich seit der Emigration wie ein Lebensfaden.“ Und sie sagt geradezu, dass sie damit den antifaschistischen, kommunistischen Widerstand meine.

Dabei geht sie zweispurig vor: einerseits will sie konkrete Hilfsaktionen an konkreten Orten nachbilden, andererseits ist sie auf der Suche nach dem großen symbolischen Bild für diesen Kampf.

So entstehen in den 1980er Jahren die ersten Plastiken in Berlin und anderen Orten.

 

Schluss folgt.

vom: 20.04.2017