Die Rückkehr Otto Nagels in den öffentlichen Raum seiner Heimatstadt Berlin

 

Es war ein historischer Abend im Schloss Biesdorf: der 12. Juli 2017 wird als die Rückkehr des großen Malers Otto Nagel, des Berliner Ehrenbürgers, in den öffentlichen Raum seiner Heimatstadt Berlin gelten. Mehr als 100 Bürgerinnen und Bürger waren zu der festlichen Veranstaltung anlässlich des 50. Todestages des Malers in das Schloss Biesdorf gekommen. Eingeladen hatten dazu das Kulturamt des Bezirkes und der Gastgeber Zentrum für Kunst und öffentlichen Raum Schloss Biesdorf.

Kulturstadträtin Juliane Witt war bei ihrer Begrüßung sehr angetan von der großen Resonanz. Sie erinnerte an die letzte öffentliche Ausstellung von Werken Otto Nagels im Schloss Biesdorf vor fünf Jahren. Sie hatte damals gemeinsam mit dem Archivleiter der Akademie der Künste Wolfgang Trautwein versprochen, dass Otto Nagel nach Biesdorf zurückkehren werde. Nun hatte sie das Bild „Wochenmarkt am Wedding“ aus dem Jahre 1926, das als Leihgabe in der Mark-Twain-Hauptbibliothek hängt, mitgebracht und erklärt, es werde im Oktober hier einen festen Platz erhalten; weitere Werke sollen folgen.

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Otto Nagels „Wochenmarkt am Wedding“

 

Schlossdirektorin Katja Aßmann war offensichtlich beeindruckt von dem Andrang. Ihr Team hatte es indes geschafft, jedem der gekommenen Besucher eine Sitzgelegenheit bereit zu stellen. Sie freue sich riesig, diesen wichtigen regionalen Künstler hier präsentieren zu können und kündigte Wolfgang Brauer als Redner des festlichen Abends an. Brauer, langjähriges Mitglied des Abgeordnetenhauses und Vorsitzender des Heimatvereins,  konzentrierte sich dabei auf die Biesdorfer Jahre. Wir dokumentieren seinen Vortrag ausführlich.

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Wolfgang Brauer sprach vor vollbesetztem Saal

 

Otto Nagel wäre in der Biesdorfer Zeit weniger Künstler denn Kulturpolitiker gewesen. In einer Übersicht listete Wolfgang Brauer Nagels Werkverzeichnis auf: Insgesamt sind 651 Werke als erhalten dokumentiert. Dabei entstanden nur 65 nach 1945, lediglich 34 größere Arbeiten, darunter vier Ölbilder direkt in der Biesdorfer Zeit. Etwa 1500 Arbeiten sind dem Krieg, insbesondere den Bomben, zum Opfer gefallen; zusätzlich 400 Werke wurden von den Nazis konfisziert oder zerstört.

In der Biesdorfer Zeit mehr Kulturpolitiker als Künstler

Der Redner konzentrierte sich dann auf die ideologischen, insbesondere kulturpolitischen und ästhetischen Debatten in der frühen DDR. Diese wurden von der sowjetischen Besatzungsmacht mitbestimmt. In der Formalismusdebatte hatte zum Auftakt der sowjetische Kulturoffizier Alexander Dymschitz die Kunst von Pablo Picasso, Marc Chagall, Karl Schmidt-Rottluff und Karl Hofer als „Mummenschanz“ und „Wirklichkeitsfälschung“ diskreditiert. Sogar Arno Mohr wurde als Formalist abgestempelt. Diese sogenannte Debatte hatte einzig ein Ziel, das Otto Grotewohl so formulierte: „Die Idee der Kunst muss der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen.“ Auch Otto Nagel, der eigentlich als Repräsentant der proletarisch-revolutionären Kunst galt, unterlag dem Formalismus-Verdikt, indem er auf den „Klassiker des Wedding“ reduziert wurde. Nagel litt in dieser Zeit, in der er sich in einer Debatte mit Walter Ulbricht den Satz anhören musste: „Es hat auch vor Hitler Entartete gegeben“. Von Nagel waren in der Nazizeit 27 Gemälde im öffentlichen Besitz als „entartet“ beschlagnahmt worden.

Otto Nagel konzentrierte sich ab 1950 auf seine Arbeit für die Akademie der Künste. Er initiierte große Einzelausstellungen von Otto Dix, Frans Masereel, Heinrich Zille, Georg Hendrik Breitner und Otto Pankok. Auch diese Maler passten nicht in die Bildvorstellungen der SED-Kunststrategen. Nagel versuchte stets, „Verstimmungen“, die westdeutsche Künstler bei Ausstellungen in der DDR erlitten, in den Folgejahren immer wieder die Spitze zu nehmen und den künstlerischen (und menschlichen) Austausch über die deutsch-deutsche Grenze nicht abreißen zu lassen. So wurde am 10. März 1956 die viel beachtete Akademie-Ausstellung „Der grafische Zyklus. Von Max Klinger bis zur Gegenwart“ eröffnet.

Otto Nagel wurde am 12. April 1956 zum Präsidenten der Akademie der Künste gewählt. Man setzte dabei auf den „Genossen Professor Otto Nagel“. Er selbst agierte eher als Diplomat. Nachdrücklich förderte er die Aufnahme ausländischer Künstler als „korrespondierende Mitglieder“ (anderes ließ das Statut nicht zu). In seiner Präsidentenzeit wurden 47 neue Mitglieder aufgenommen, dazu kamen 26 „korrespondierende“. Unter den Neuaufgenommenen waren 1956 Otto Pankok und Diego Rivera, 1957 Otto Dix (auf Vermittlung Josef Hegenbarths, der selbst offenbar mit Billigung Nagels Mitglied der Westberliner „Konkurrenzakademie“ wurde), 1958 Frans Masereel, 1960 Paul Robeson und Igor Oistrach.

Intensiv bemühte sich Nagel um seine Meisterschüler. Harald Metzkes, Ronald Paris und Rolf Schubert wurden von ihm betreut. Ganz reibungslos lief dies angesichts des äußerst unterschiedlichen Erfahrungshorizontes von Schülern und Lehrer offenbar nicht ab. Nagel attestierte z. B. Ronald Paris „… ohne Zweifel eine Begabung … Er hat eine Vorliebe, junge Mädchen zu zeichnen, wobei die Gefahr besteht, dass er seine Begabung verschenkt. … wenig, aber dafür ausgeführte Arbeiten wären mehr als die unzähligen inhaltslosen Ölstudien, die er in der letzten Zeit geschaffen hat.“ Paris spricht noch heute voller Hochachtung von seinem Lehrer.

Harald Metzkes, Der glühende Ofen. 1967

Harald Metzkes, Der glühende Ofen. 1967 (Bild: Galerie Leo.Coppi)

Ronald Paris, Regenbogen über dem Marx-Engels-Platz. 1962

Ronald Paris, Regenbogen über dem Marx-Engels-Platz. 1962

 

Enge Kontakte zur West-Berliner Akademie und westdeutschen Künstlern

Ein besonderes Thema waren Nagels Bemühungen um einen engen Kontakt zur 1954 gegründeten Westberliner Akademie der Künste, deren Präsident ab 1955 der Architekt Hans Scharoun war. 1956 stand man in Kontakt, um gemeinsam die Restaurierung der Quadriga Gottfried Schadows für das Brandenburger Tor in die Wege zu leiten. Nagel beförderte die einzige gemeinsame Veröffentlichung beider Akademien, die Schrift Cornelia Schröders „Carl Friedrich Zelter und die Akademie“ (1959). Auf Bitten Max Tauts, der Mitglied der Westberliner Akademie war, wandte sich Nagel im März 1960, bekanntermaßen erfolglos, an den Ministerpräsidenten Otto Grotewohl und den Kulturminister Alexander Abusch, um den Abriss der erst 1956 für drei Millionen DM wiederhergestellten Bauakademie Schinkels in Berlin-Mitte zu verhindern. Nagel kämpfte auch für den Erhalt des Potsdamer Stadtschlosses.

Der kulturpolitische Kurs Otto Nagels – ähnliche Gründe führten fast zeitgleich zum Rauswurf des „Sinn-und-Form“-Chefredakteurs Peter Huchel – dürfte den Hardlinern Alfred Kurella und Alexander Abusch schon länger ein Dorn im Auge gewesen sein. Das Fass zum Überlaufen gebracht hatte die 1961er Akademie-Ausstellung „Junge Künstler“. Wie damals üblich wurde von den Kulturfunktionären die Dekadenz-Keule geschwungen. Nagel musste schriftlich Stellung nehmen. Am 8. Februar 1962 wurde Otto Nagel von Abusch zum „Vieraugengespräch“ vorgeladen. Abusch erstattete Kurella über den Verlauf in einem Brief vom 22. Februar 1962 Rapport. Nach allgemeinem Palaver kam Abusch offenbar zügig „zur Sache“. Er legte Nagel „die ideolog. Gründe dafür dar, dass ein neuer Präsident der Akademie gewählt werden muss.“ Offenbar wurden ihm der Rauswurf und ein damit verbundenes Berufsverbot angedroht: „Ich habe ihm gesagt, dass er in Ehren ausscheiden soll, damit er seine Tätigkeit als Künstler … fortsetzen kann. Im Verlaufe des Gespräches überzeugte sich Genosse Nagel, dass dieser Weg der richtige ist und er sein Amt diszipliniert bis zur Neuwahl weiterführen soll.“ Otto Nagel gehorchte, zum Widerstand sah er sich nicht mehr in der Lage.

Letzte Werke

1963 malte Nagel in Biesdorf aber noch einmal ein großes Selbstbildnis, „Der alte Maler“, das heute den Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden gehört. Das Selbstbildnis zeigt einen müden, in seiner Schaffenskraft fast erloschenen Mann. Voller Trauer beschreibt es sehr genau die psychische Verfassung des Künstlers.

Otto Nagel, Der alte Maler. 1963

Otto Nagel, Der alte Maler

 

Zwei Jahre später entstand im Biesdorfer Atelier noch ein Porträt der inzwischen erwachsenen Tochter Sibylle. Sibylle Nagel war es, die ihrem Vater bei einem letzten künstlerischen Aufbäumen Hilfestellung leistete. Wally Nagel berichtete darüber im Vorwort des Buches „Berliner Bilder“: „Kurz bevor Otto Nagel uns für immer verlassen hat, bat er unsere Tochter Sibylle, ihn nach Alt-Berlin zu bringen, wo er schon lange nicht mehr gewesen war. Sie packte – so wie ich es früher getan hatte – seine Pastellstifte, ein Malstühlchen und Pappen ein und brachte ihn dorthin. Lange ging er, um etwas zu finden, was noch festgehalten zu werden lohnte. Er ahnte ganz sicher, dass er diesmal für immer Abschied nahm von Alt-Berlin. Dann aber, heiter wie früher und nicht ein bisschen müde, schaffte er in sechs Tagen fünf Pastelle – ‚Abschied vom Fischerkietz‘. Noch nie waren seine Pastelle so stark, so farbig, so lebendig schön! … Er war froh, daß er sie noch gemalt hatte, die alte Stadt am Ende …“

Otto Nagel, Abschied vom Fischerkietz IV. Pastell, 1965

Otto Nagel, Abschied vom Fischerkietz IV. Pastell, 1965

 

Ein wahrer Mensch und großartiger Maler

Otto Nagel, so resümierte Wolfgang Brauer, gehöre mit Hans Baluschek, Heinrich Zille und Käthe Kollwitz – für die beiden Letzteren verfasste er am Biesdorfer Schreibtisch lesenswerte Biografien – in die Reihe der großen Berliner Künstler des 20. Jahrhunderts. Dieser wahre Mensch und großartige Maler darf nicht dem Vergessen anheimfallen. So beendete Wolfgang Brauer seinen großen Vortrag, auf den ein langer und warmer Beifall folgte.

Dokumentarfilm über Walli Nagel

Es folgte der Film über Walli Nagel, den der Regisseur  Mathias J. Blochwitz vorstellte. Er dankte zunächst dem Deutschen Rundfunkarchiv für die Digitalisierung des 35mm-Filmes. Mit dem Calauer: „Was ist sozialistischer Realismus? Der ist wie das Leben – nur schöner!“, führte er in den Dokumentarfilm ein.

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Filmstart „… als ob es gestern wär'“

 

… als ob es gestern wär‘. Walli Nagel betrachtet ihr Leben“  von Wolfgang Dietzel ist eine Hommage an die langjährige Ehefrau des Malers. Von 1925 bis 1967 war sie an Nagels Seite. Nagel hatte sie in Leningrad kennen gelernt, wo er die 1. Allgemeine Deutsche Kunstausstellung in Moskau, Saratow und Leningrad (St. Petersburg) im Auftrag der Internationalen Arbeiterhilfe begleitete. Aus der Schauspielerin Walentina Nikitina wurde schnell Walli Nagel. Wallis großes Verdienst bestehe darin, so Mathias J. Blochwitz, dass sie über das sowjetische Außenministerium mit dem deutschen Ribbentrop-(Außen-)Ministerium eine Entlassung Otto Nagels aus dem KZ Sachsenhausen erreichen konnte, wohin er 1937 eingeliefert worden war. Walli wollte eigentlich mit ihrem Mann das nazistische Deutschland verlassen, was Nagel strikt ablehnte. So war diese Hilfe für den Maler überlebenswichtig. Sie lebte bis zu ihrem Tode 1983 in Deutschland, aber ihre russische Seele blieb immer. „Er war mein Mann und ich liebte ihn“. Diese zentrale Botschaft vollendete den Film, der wiederum langen und warmherzigen Beifall erhielt.

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Walli Nagel im Film

 

Wolfgang Brauer erinnerte abschließend daran, dass das Otto-Nagel-Haus auf der Fischerinsel 1994 schließen musste, die kommunale Otto-Nagel-Galerie in der Weddinger Seestraße 49 im Jahre 2007. Der Berliner Alt-Bezirk Wedding hatte 1984 einen Otto-Nagel-Preis gestiftet, der allerdings nur ein Mal vergeben wurde. Nun also, am 50. Todestag, kehrt der große Künstler in die Öffentlichkeit seiner Heimatstadt zurück. Es ist nicht der Wedding, es ist Marzahn-Hellersdorf. Otto Nagel gehört hierher.

4 Akteure

4 wichtige Akteure des Abends: Mathias J. Blochwitz, Juliane Witt, Katja Aßmann, Wolfgang Brauer (v.l.)

 

(Axel Matthies)

 

vom: 18.07.2017