Der Vortrag am 21. Oktober 2020 gemeinsam mit der Volkshochschule Marzahn-Hellersdorf im Schloss Biesdorf war einem Dauerbrenner der Diskussionen zur DDR-Geschichte gewidmet:
„Architektur zwischen Individualität und Typenbau. Gewolltes, Gelungenes, Gescheitertes“.
Referent war kein Geringerer als Prof. Wolf R. Eisentraut, einer der wichtigsten Architekten in der damaligen Hauptstadt und des gesamten Landes. Eisentraut, der jetzt 77 Jahre alt ist, zog damit auch Bilanz seines Lebens. Er hat inzwischen genauso lange in der DDR gebaut wie im vereinigten Deutschland. Wer, wenn nicht er, kann sich ein Urteil erlauben.
Prof. Eisentraut konzentrierte sich in seinem bildgestützten Vortrag auf seine Arbeiten in Berlin-Marzahn. Im damaligen VEB Bau- und Montagekombinat Ingenieurhochbau (IHB) entwickelte und baute er die Häuser als verantwortlicher Architekt in den Jahren zwischen 1973 und 1988.
Der Vortragende eröffnete seine Erinnerungen mit dem Jahr 1955: in diesem Jahr sei in der DDR mit dem industrialisierten Wohnungsbau begonnen worden. Drei einfache Haustypen – flach, mittel, hoch – seien dafür konstituiert worden, die in ebenfalls typisierten Baufeldern angeordnet wurden. Hinzu seien konische Elemente gekommen. Eisentraut bekannte sich „mitschuldig“ an der Wohnungsbauserie (WBS) 70, Typ Neubrandenburg. Dieser Typ, mit kleinen Fenstern im Treppenhaus, sei in der DDR millionenfach eingesetzt worden.
Als Anekdote steuerte er hier bei, dass von den zweiteiligen Fenstern in der Regel nur der kleine Flügel geöffnet worden sei; unter dem großen Flügel habe aus platztechnischen Gründen in der jeweiligen Wohnung immer das Ehebett gestanden.
Wolf R. Eisentraut erläuterte die Grundprinzipien des industriellen Bauens. Wesentlich sei dabei gewesen, dass alle Häuser – sowohl die typisierten Wohnbauten als auch die Geselschaftsbauten – aus den vorhandenen Elementen, wie sie in den Vorfertigungsstätten (Plattenwerken) massenhaft produziert wurden, zu konstruieren gewesen wären. Ausnahmen gab es nur wenige. Für Architekten war das von vornherein eine gewaltige Einschränkung, aber auch eine Herausforderung ohnegleichen. Wie er sie lösen konnte, bewies er an einem Schulbau für körperbehinderte Schüler in der Lichtenberger Paul-Junius-Straße.
Sodann wandte sich Prof. Eisentraut seinen Gesellschaftsbauten in Marzahn zu. Er erläuterte seinen Entwurf für das Hauptzentrum, das zwischen Bahnhof und Freizeitforum gelegen ist.
Vorab soll aber hier authentisch erinnert werden, wie Marzahn gesellschaftspolitisch geplant war. Im Jahre 1971 hatte der VIII. Parteitag der SED die „Politik der Hauptaufgabe in ihrer Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ beschlossen, in deren Zentrum die Verbesserung der Wohnbedingungen der Werktätigen zur vordringlichen sozialen Aufgabe erklärt wurde. Der IX. Parteitag fünf Jahre später – er fand im Mai 1976 im neu errichteten Palast der Republik statt – stellte die „geschichtliche Aufgabe, die Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990 zu lösen“. Dabei wurde auf die Hauptstadt Berlin besonderes Augenmerk gelegt. Im Zentrum stand Marzahn.
Es ging um die Versorgung der Berliner mit Wohnraum, aber auch um die Versorgung Zuziehender, die im wachsenden Staatsapparat sowie in neu errichteten bzw. stark erweiterten Industrieanlagen in Marzahn und Hohenschönhausen arbeiteten. Wir erinnern dabei an Betriebe wie: VEB Kombinat Kraftwerks- und Anlagenbau, VEB Kombinat Elektroprojekt und Anlagenbau Berlin, VEB Energiekombinat Berlin, VEB Berlin Kosmetik sowie die großen Baukombinate Wohnungsbaukombinat, Tiefbaukombinat und Ingenieurhochbau – fast alle versanken im Orkus der Treuhandanstalt. An dieser Stelle werfen wir einen Blick in die Zeitung vor 45 Jahren.
Die „Berliner Zeitung“ berichtete über eine SED-Bezirksdelegiertenkonferenz Berlin, die im Frühjahr 1976 schier unglaubliche Ankündigungen machte – wir zitieren aus der Rede des damaligen 1. Sekretärs K. Naumann: „Durch Neubau und Modernisierung von 300.000 bis 330.000 Wohnungen in den nächsten 15 Jahren ist die Zahl der vorhandenen Wohnungen der Zahl der Haushalte anzunähern und bis 1990 das Wohnungsproblem so wie vorgesehen zu lösen… In Übereinstimmung mit den wachsenden Bedürfnissen der Werktätigen und den realen materiellen Möglichkeiten sind bis 1990 alle Wohnungen in einen guten baulichen Zustand zu versetzen. Sie sind mit Innentoilette sowie Bad oder Dusche und in der Mehrzahl mit modernen Heizungssystemen auszustatten.“ Diese Ankündigungen waren so traumhaft, für viele unglaublich, dass sie es sogar in einen Gassenhauer von Reinhard Lakomy schafften: „Bis 1990, so sagt die Partei, sind wir alle wohnraumsorgenfrei“.
Um so größer war der Druck für jene, die diese Pläne umsetzen mussten. Prof. Eisentraut stellte sich als verantwortlicher Architekt im IHB dieser Aufgabe. Seine Studien zeigen den architektonischen Anspruch. Im Vergleich zu heute gab es Wettbewerbe für höchstens drei Kollektive. Dabei stand immer das Primat des Pragmatischen und der niedrigen Kosten im Vordergrund. Wie oben angekündigt konzentrierte sich Prof. Eisentraut in seinen Ausführungen auf das Hauptzentrum Marzahns in der Streckung vom Bahnhof bis zum Freizeitforum Marzahn. An dieser Stelle einige Fotos aus dem historischen Fundus von Prof. Eisentraut.
Auf dieser Fläche fokussierte sich das städtische Leben. Im Gegensatz zum benachbarten Stadtteil Hellersdorf dominieren in Marzahn Geschossbauten mit 11 Etagen und mehr. Neben den zentralen singulären Bauten wie Warenhaus (mit Oberlicht!), Post und Dienstleistungskomplex sollten vor allem die sogenannten Funktionsunterlagerungen (also Geschäfte in den ursprünglich reinen Wohnbauten) für Attraktion sorgen. Zusätzlich waren dieser zentralen Achse zahlreiche Gaststätten unterschiedlichen Typs zugeordnet. Unter den Bedingungen des Handels in der DDR funktionierte das System vorzüglich; abgesehen davon, dass in den Geschäften immer etwas fehlte.
Zudem erinnerte Wolf Eisentraut an die Gestaltung der Nebenzentren Helene-Weigel-Platz und Ringkolonnaden. Am Beispiel des Rathauses Marzahn zeigte Eisentraut beispielhaft die Improvisationen, die immer nötig waren. Um die vorgehängten Platten erlebbar zu machen, kooperierte er mit dem Klinkerwerk in Großräschen. Dieses Werk in der südlichen Lausitz mit langer Industriekulturtradition lieferte ausrangierte Ziegel, mit denen die Außenhaut des Rathauses gestaltet wurde. Eisentraut demonstrierte das mit den sichtbar unterschiedlich farbigen Ziegeln im Eingangsbereich.
Die Ringkolonnaden, damals ergänzende Versorgungseinrichtung im Norden Marzahns und von preisgekrönter Gestaltung, wurden inzwischen abgerissen; das neu gebaute Plaza Marzahn übernahm deren Funktion. Die Galerie M von 1990, ein lichtdurchfluteter Kulturbau und Magnet der kunstinteressierten Anwohner, ließ die landeseigene degewo 2014 geräuschlos wegreißen. Begründung: in der technischen Unterhaltung zu kostspielig.
So neigte Prof. Eisentraut am Ende seines Vortrages zu Bitternis und zeigte ein Bild vom zerstörten Karthago. Ein nicht geringer Teil seines Werkes in Marzahn, vor allem sinnstiftende Gesellschaftsbauten, ist nach weniger als 30 Jahren abgetragen. Wer einen Blick in sein Werkverzeichnis wirft, stellt den Verlust schnell fest. Es sind zudem die damals beliebten und individuell ausgestalteten Clubgaststätten, die den unsubventionierten Betrieb nicht überlebten – sie wurden schnell abgerissen. Nun steht der Abriss des einzigen neu gebauten Kinos „Sojus“ am Helene-Weigel-Platz bevor. Dennoch hält er den Prozess der Bewertung des Wohnungs- und Gesellschaftsbaus in der DDR nicht für abgeschlossen, er bleibe in Bewegung. Selbst wenn man die gänzlich anderen Ansprüche der Gegenwart an die Präsentation von Waren berücksichtigt – der erste Satz in Marx‘ Kapital lautet: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementarform“ – bleibt seine Beurteilung der nachfolgenden Bebauung nicht unkritisch. So habe Eisentraut im Streit mit dem Investor ECE hinsichtlich der architektonischen Ausstrahlung auf das ursprüngliche Ensemble darauf hingewiesen, dass die Südflanke des Einkaufszentrums Eastgate sich gegenüber der Promenade als geschlossene Kulisse präsentiert und das Flanierinteresse gänzlich verhindere. Zudem hätte das Einkaufscenter der übrigen Marzahner Promenade das Wasser abgegraben, die Kaufkraft für weitere Geschäfte mit sonstigen Angeboten funktioniere nicht. Der fremde Besucher bemerke die Leere, aber nicht die Ursachen. So greift ein einzelner Bau anmaßend in ein komplettes Ensemble ein.
In der abschließenden kurzen Diskussionsrunde dominierten zwei Themen: zum einen die Ursachen und Beweggründe der neuen Besitzer für den Abriss der Häuser, zum anderen der Blick auf den komplexen Wohnungsbau in seiner Gesamtheit und das einzelne Haus als Dominante und Sinnstiftung. Prof. Eisentraut ist sich darüber im Klaren, dass der komplexe Wohnungsbau in seiner Einheit von Wohnungs- und Gesellschaftsbau, von verkehrlicher Erschließung und täglicher Versorgung ein besonderer Wert ist. Er wollte mit seiner Arbeit, mit dem einzelnen Haus, Lebensgefühl und Heimat schaffen, er wollte mit daran wirken, dass sich Städte entwickeln und mit ihren Bürgern wachsen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Prof. Eisentraut in einer Veranstaltung mit dem Heimatverein Marzahn-Hellersdorf folgende Formulierung getroffen:
„Die industrielle Bauweise ist keine abgeschlossene Epoche, in einer industrialisierten Gesellschaft ist sie vielmehr ein ganz normaler Teil; es kommt nur darauf an, die industrielle Bauweise so zu lenken, dass sie für die wirklichen Bedürnisse eingerichtet wird, dass sie nicht als Selbstzweck die Lösung diktiert, sondern dass in erster Linie die Frage steht: Welche Stadtentwicklung brauchen wir, was brauchen wir für die Menschen, die da wohnen? Danach haben sich die technischen Möglichkeiten zu richten, und die Architekten natürlich auch.“
Wer heute die Wohnkomplexe in Marzahn durchstreift, trifft auf funktionierende und vermietete Häuser, auf gepflegte und respektierte Freiflächen, auf Menschen, die sich wohlfühlen und Rücksicht nehmen. Die Häuser wurden technisch nachgerüstet und das Wohnumfeld aufgewertet. Der Stadtteil wird jetzt spürbar verdichtet, überall drehen sich Kräne, die Nachfrage nach Wohnraum ist ungebrochen. Freilich ist es nötig, die Hälfte der Neuvermietungen zu subventionieren. Marzahn ist, entgegen der Annahme vieler Unwissender, ein beliebter Wohnort für arbeiterlich geprägte Menschen, darunter verschiedene Nationalitäten vor allem aus Osteuropa. Die weiträumige Kulisse hat sich in pandemischen Zeiten durch unterdurchschnittliche Infizienz bewährt. Was Marzahn dennoch braucht, sind sinnstiftende Hauptgebäude, die seinen Bewohnern gerecht werden und dem Stadtteil als Kernmarke dienen. Da könnte Eisentraut Rat geben.
Die Neubaukomplexe in der DDR und den anderen Ländern des Staats-sozialismus, das sei abschließend bemerkt, unterliegen nicht den Kriterien der bürgerlichen Architekturkritik. Es ging hier niemals um das einzelne Haus und seinen Tauschwert, es ging immer um das Häuser-Ensemble in seiner Gebrauchs-wertigkeit. Hein Köster, der langjährige Redakteur der Zeitschrift „form + zweck“, auf deren Seiten über einige Jahre eine ernsthafte Debatte zur Formgestaltung im Sozialismus stattfand, formulierte diese Erwartung so: „Der Anspruch der Einfachheit ist perspektivisch, denn sein Pathos ist die soziale Egalité.“ Und Lothar Kühne, ein weiterer wichtiger Akteur dieser Debatte differenzierte: „Für die Faszination der Einfachheit des Praktischen ist noch kein dauerhaftes Organ gebildet.“ Dies wäre dann allerdings ein neuer Vortrag. Ein anregender Abend mit Wolf R. Eisentraut ging zu Ende.
Nun ist endlich – anmelde- und testfrei seit dem 4. Juni – die nächste große Ausstellung im Schloss Biesdorf zu sehen: Zeitumstellung, eine Schau mit Werken aus dem Kunstarchiv Beeskow. Die Beeskower Arbeiten stehen im Kontrast und Dialog mit heutigen Positionen. Wieviel Zeit ist an uns vorüber geflossen. Vor einem Jahr, wir erinnern uns, sollte hier eine große Ausstellung „Menschenbild – Menschenbilder“ mit Porträts des Künstlers Otto Nagel, dem Berliner Ehrenbürger aus Biesdorf, gezeigt werden. Die angekündigte Ausstellung wurde kurzfristig abgesagt, nicht wegen Corona, sondern weil nach Einschätzung des bezirklichen Baubereichs die von Leihgebern für kostbare Bilder verlangten Klimawerte in den Galerieräumen mit portablen Geräten nicht realisierbar waren. Inzwischen liegt ein vom Bezirksamt akzeptierter Vorschlag für den Einbau einer Klimaanlage vor, dessen Finanzierung (auch mit Fördermitteln) aber noch zu sichern ist. Frau Scheel als künstlerische Leiterin des Schlosses bekräftigte, dass die Nagelausstellung dann unbedingt kommen wird. Unser Verein wird eine möglichst baldige Umsetzung dieses dringenden Projekts unterstützen.
Kuratorin der aktuellen Ausstellung „Zeitumstellung“ ist Elke Neumann. Sie ist 42 Jahre alt, stammt aus der Prignitz und hat an der TU Berlin Kunstgeschichte, Kunstkritik und Kunsterhaltung studiert. Danach absolvierte sie ein zweijähriges künstlerisches Volontariat an der Kunsthalle Schirn in Frankfurt (Main). Seitdem ist sie als freie Kuratorin tätig. Ihre letzte Ausstellung in der Kunsthalle Rostock „Palast der Republik. Utopie, Inspiration, Politikum“ wurde ausgezeichnet als „Ausstellung des Jahres 2019″. Die deutsche Sektion des Internationalen Kunstkritikerverbandes AICA vergab die Auszeichnung mit folgender Begründung: „Die Schau berichtet leicht verständlich und wissenschaftlich sachlich über die Geschichte und künstlerische Rezeption des Gebäudes. Die Berliner Kunsthistorikerin Elke Neumann hat einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Auseinandersetzungen um das kulturelle Erbe der DDR geleistet. Die Ausstellung ließ politische und ideengeschichtliche Strömungen des Streits um das Haus erkennen.“ Wir erwähnen diese Fakten ausführlich, weil auch die Fachkompetenz und das Engagement in dieser Biesdorfer Exposition klar zu erkennen sind.
Elke Neumann hat die Ausstellungsräume jeweils einem Thema zugeordnet. So verschwimmen die Bilder nicht, wie bisher öfter gesehen, sondern bleiben Teil einer Überschrift. Sie heißen so:
Die Ostdeutschen
Bedeutungsträger
Völkerfreundschaft
Kinder
Wohnungsbau I
Wohnungsbau II
Naherholung
Privat
Lassen wir uns durch die Räume treiben und Erinnerungen wogen.
Der Raum Die Ostdeutschen ist dominiert von Porträts. Ein Genre, das man aus der zeitgenössischen Kunst kaum noch kennt. Da sitzen oder stehen lauter Menschen, die einen Namen haben und aus der Anonymität einer großen Arbeitsgesellschaft heraus gehoben und zum Subjekt werden. Ein Bergarbeiter, eine Bauarbeiterin, ein Student, eine junge Frau mit roten Haaren. Man betrachtet die Personen, als kämen sie aus einer Zeit weit vor uns. Dabei gibt es sie immer. Aus der Arbeiterklasse von einst ist nun eine unsichtbare Seite des Kapitalverhältnisses geworden. Elke Neumann benennt ein weiteres Problem: diese Welt wird aus der Sicht des westdeutschen Feuilletons nach wie vor mit „Abwertung und Argwohn“ betrachtet. Interessant in diesem Raum, aber leider unkommentiert: zwei Bildschirme, die Erinnerungsberichte ostdeutscher Erfahrungen aus dem Vereinigungsprozess senden. Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit. Sie werden solche Gesichter, solche Haltungen und solche Bildhintergründe heute kaum noch finden.
Die Abteilung Bedeutungsträger erstrahlt in dominantem Rot. Die dazugehörigen Bilder versetzen einen sofort zurück in jene Epoche, die den weltweiten Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus „gesetzmäßig“ dokumentieren sollte. Ohne Fahnen, ohne Transparente, ohne Aufmärsche gelang dieser Übergang nicht. Dennoch hüllt die Farbe Rot ein. Und sie erinnert für immer an dieses Lied:
Ich trage eine Fahne, und diese Fahne ist rot. Es ist die Arbeiterfahne, die Vater trug durch die Not. Die Fahne ist niemals gefallen, so oft auch der Träger fiel. Sie weht heute über uns allen und sieht schon der Sehnsucht Ziel.
Am Ende dieser Abteilung spielt eine zeitgenössische Künstlerin ikonische Szenen am Berliner Schloss und am Reichstagsgebäude vom 9. November 1918 nach: Liebknecht ruft die sozialistische Republik aus, Scheidemann die bürgerlich-demokratische Republik. Wenigstens die Lebenserinnerungen Scheidemanns liegen zur Lektüre bereit.
Als damaliger Zeitgenosse wird man in den Abteilungen Völkerfreundschaft und Kinder ein wenig sentimental. Über allen Erinnerungen klingt der Sound von der kleinen weißen Friedenstaube:
Kleine weiße Friedenstaube, fliege übers Land; allen Menschen, groß und kleinen, bist du wohlbekannt.
Die Völkerfreundschaft dagegen kommt ganz plakativ daher. Unsere Welt war damals bunt, idyllisch und schön, aber niemals real divers. Deswegen anregend der späte Beitrag von Christoph Wetzel. Sein „Das jüngste Gericht“ von 1987 mag damals parteiisch gewirkt haben. Mehr als 30 Jahre später stimmt es nachdenklich.
Dazu kommt als Kontrast der heutige Beitrag von Malte Wandel „Einheit, Arbeit, Wachsamkeit: Die DDR in Mosambik“. Das ist eine Fotoarbeit über ehemalige Vertragsarbeiter, die in ihrer Heimat als „madgermanes“ gegen die dortige Regierung um ausstehende Löhne und Rentenanteile kämpfen. Die Problematik ist vor einiger Zeit durch die Presse gegangen mit der Anmutung, die DDR habe die Vertragsarbeiter betrogen. Die Bundesregierung weist diese Vorwürfe zurück. Wandels Arbeit konzentriert sich auf die Fotodokumentation und erhielt dafür eine Auszeichnung.
Die Räume Wohnungsbau I und Wohnungsbau II erscheinen völlig normal, sind überhaupt nicht mehr so ideologielastig wie zu ZKR-Zeiten bestückt. Keine erdrückende „Plattenbau“-Front, kein drohender Zeigefinger. Es sind Häuserlandschaften in der Berliner Innenstadt zu sehen und natürlich die Bauplätze des Wohnungsbaus im Osten der damaligen Hauptstadt. Wir hatten dazu schon Bilder von Günter Brendel im Schloss Biesdorf gesehen; diesmal bleibt er aussen vor zugunsten Fritz Dudas, der eine Baustelle in der Lichtenberger Hans-Loch-Straße aus den 1960er Jahren zeigt.
Ein ruhiges Bild aus den frühen Zeiten vor dem VIII. Parteitag der SED und dem dort im Jahre 1971 beschlossenen Wohnungsbauprogramm. Dazu Bilder aus dem ehemaligen Zentrum der Hauptstadt der DDR: gesehen und gemalt unweit des Fernsehturms, der Karl-Liebknecht-Straße und dem Palast der Republik. Ein Kontrast, auf den Konrad Knebel und Joachim Bayer aufmerksam machen.
Ergänzt wird dieser Block von einer Installation im Oktagon: „P2/11 re:visited“ von Annett Zinsmeister. Ihr geht es um den ästhetischen Wert des seriellen Bauens, der ihr als Diplom-Ingenieurin weder unbekannt noch fremd ist. Wir hatten hier unlängst im Zusammenhang mit einem Vortrag von Wolf R. Eisentraut argumentiert.
Dennoch sollten wir nie vergessen: 100 Jahre vor dem SED-Parteitag begann der Massenwohnungsbau in der damaligen Reichshauptstadt. Auch dieser war bereits serielles Bauen, wenn auch in Handarbeit, die Häuser waren meist identisch. Wer je im Berliner Altbau wohnte, weiß das. In den letzten Wochen hatte ich Jürgen Kuczynskis „Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Band 4. 1871 – 1918“ zur Hand. Er zitiert dort Gustav Schmoller, einen Sozialwissenschaftler und Nationalökonomen, aus dem Jahre 1887: „Die heutige Gesellschaft nötigt die unteren Schichten des großstädtischen Fabrikproletariats durch die Wohnverhältnisse mit absoluter Notwendigkeit zum Zurücksinken auf ein Niveau der Barbarei und Bestialität, der Roheit und des Rowdytums… Ich möchte behaupten, die größte Gefahr für unsere Kultur droht von hier aus…“ (Kuczynski S. 214). Schmoller bezieht sich dabei sowohl auf die gebaute Enge der Karrees, die hygienischen Zustände als auch die Überbelegung der Wohnungen in Form des „Schlafburschen- und Kostgängerunwesens“.
Diesen Vorwurf kann man dem Wohnungsbau des Staatssozialismus überhaupt nicht machen, zumal er in der DDR im Vergleich mit den „Bruderstaaten“ zu den besten gehörte. Die ästhetische Anmutung der Wohnsiedlungen ist ein Argument – viele andere gehören dazu. Das Hinterhaus in Charlottenburg mag entkernt und wunderbar saniert sein – im Februar scheint dort, wie vor 150 Jahren, die Sonne maximal zwei Stunden. Die P2-Installation im Oktagon bleibt so als zeitgenössischer Kommentar wieder plakativ, auch wenn Annett Zinsmeister über einen weitaus gefächerteren Hintergrund verfügt. Die Serie P2 wurde zeitweilig sehr kompakt gebaut, so am damaligen Leninplatz in Berlin, und verstörte dadurch Menschen. Die Wirklichkeit der Großsiedlungen im Osten der Bundeshauptstadt ist inzwischen eine andere. Gleichwohl hat die Debatte um den Mietendeckel die 84% der Berlinerinnen und Berliner, die zur Miete wohnen, deutlich daran erinnert, dass Wohnen ein Grundbedürfnis des Menschen ist – wie für alle Lebewesen – und daher auch in einer bürgerlichen Gesellschaft geschützt werden muss. Da helfen ästhetische Bloßstellungen der Großsiedlung wenig. Es gibt diese seriellen Häuser in der ganzen Welt. Ich wage eine Vorausschau: in zehn Jahren gilt die dann mit weiterem Wohnraum verdichtete und um eine bessere soziale Infrastruktur erweiterte „Platte“ am Stadtrand als Erfolgsstory für lichtes und luftiges Wohnen in Zeiten des Klimawandels!
Am Ende der Ausstellung plaziert ist der Komplex Naherholung, ein Begriff, der aus dem Sprachgebrauch weitgehend verschwunden ist. Nicht jedoch die Handlungen, die damit verbunden sind. Man fährt hinaus ins Grüne, badet, sonnt sich, holt sein Picknick heraus und quasselt – oder schweigt. Unwichtig sind Parkplätze für Autos; man reiste per pedes, Rad oder Eisenbahn an. Imbissangebote gab es wenige, man brachte seine Stullen, Tee und Obst selbst mit. Die Bilder von Barbara Müller-Kageler bezeugen das.
Nachdenklich stimmten mich die Bilder vom Schulsport. Schulsport besteht heute, wenn man den Medien Glauben schenkt, vorwiegend aus nicht funktionsfähigen Turnhallen, gesperrten Plätzen oder unzumutbaren Sanitäreinrichtungen. Der Leistungsgedanke beim Schulsport ist unerwünscht. In den 1960er Jahren gab es in Ost-Berlin einen Staffellauf für Schulen. Eine Zeitungsnotiz aus dem Jahre 1966 erinnert uns daran: „Über 15.000 Berliner Kinder und Jugendliche hatten sich in diesem Jahr an den Vorausscheiden des BZA-Laufes beteiligt, dessen Finale am Sonntag zum zehnten Male ausgetragen wurde und 4.400 Teilnehmer in 150 Mannschaften am Start sah. Vier neue Streckenrekorde zeugten dabei vom gewachsenen Leistungsstand im Schulsport der Hauptstadt …“ An diese Zeiten erinnern vier Sportgrafiken. Auf einer pfeift ein engagierter Übungsleiter seine Sportler zum Start ins Schwimmbecken, sichtbar Leistung fordernd (Künstler: Harald Metzkes). Der Betrachter ist verwundert: diese Haltung war einmal völlig normal. Sie wird nicht mehr nachgefragt, eher abgelehnt. Kinder können immer seltener schwimmen, nicht schnell laufen, nicht auf Bäume klettern. Schwimmhallen werden endlos saniert, Freibäder auf die jahrzehntelange Bank geschoben…
Am Ende Privates. Hier, im Vestibül des Heino-Schmieden-Saales, kommt es dann doch zur Provokation. Unverkennbar alte Teile einer Schrankwand sind zu einer Installation verschraubt. Nach außen gekehrt sind nicht die Fronten sondern die rückwändigen Hartfaserplatten. Die Künstlerin heißt Inken Reinert, sie stammt aus Jena. In einer früheren Besprechung zu diesem Werk heißt es: „Die Pankower Künstlerin zeigt eine Installation aus Elementen von in der DDR gefertigten Schrankwänden, die dort in fast jedem Haushalt zu finden waren.“ Ja, so war es. Wir hatten alle die gleiche Möblierung, die gleichen Klamotten, den gleichen Namen – und sahen auch alle gleich aus. Wer sich 30 Jahre nach dem Beitritt an einer Schrankwand Carat 2 abarbeitet, um die muss einem bange sein. Dankbar ist man dem Werk und seinen Rückwänden dennoch: es sind noch die Produktzettel erhalten. So wird dieses Werk produktiv.
Versuchen wir eine Zusammenschau. Die gegenwärtigen Positionen, so mein Eindruck, haben nicht die Stärke, die künstlerische Kraft, sich gegen die Originale durchzusetzen. Das gilt auch für alle vorausgegangenen Ausstellungen. Die Künstler der analogen Zeit studierten ihren Gegenstand, um ihn dann zu einem Kunstwerk zu formen. Die Künstler*innen der digitalen, jetzt auch gendergerechten Zeit, erarbeiten sich selten einen eigenen Gegenstand, ziehen es vor, zu kommentieren oder sich zu distanzieren. Bei Vernissagen erklären sie ihre Arbeiten stundenlang, die Künstler der analogen Zeit, wie einmal Ursula Strozynski, sind ganz still: „Sehen Sie selbst!“
Dieses Missverhältnis ist zu bedauern. Die Beeskower Kunstwerke sollten, so der Plan, nicht museal ausgestellt werden, sondern immer im Dialog, im Vergleich, in einer Reflexion zur Jetztzeit gezeigt werden. Dieser Dialog kommt auch in dieser Ausstellung nicht auf Augenhöhe zu Stande. Die Kuratorin plagt uns in Zeitumstellung, abgesehen von Reinerts Installation, nicht mit „Wolken“, den aufgepumpten LKW-Reifen, oder einem „Mückenhaus“, wie zu ZKR-Zeiten gesehen. Ihre Dialogangebote zwingen aber keinesfalls zur Infragestellung oder gar Ablehnung der Aussagen der Beeskower Werke. Das ist nun zugleich die Stärke der kuratorischen Arbeit: wir sehen auch Werke, die zwar in der DDR entstanden sind, sich aber nicht auf eine ausschließlich staatssozialistische Sicht beschränken. Sie zeigen Menschen, die leben, arbeiten, froh sind; oder nachdenklich. Sie zeigen Landschaften, die karg und nicht immer blühend waren. Sie zeigen Massenzusammenkünfte, die inszeniert und überzeichnet sind. Die Bildwerke zeigen aber auch, und das ist mir dieses Mal besonders deutlich geworden, dass das Wesen der Kunst als das Hervorbringen des Außerplanmäßigen in Relation zu einem System verstanden werden kann, wie es Marlene Heidel in ihrem Buch „Bilder außer Plan“ formuliert hatte. Die Bilder regen nicht nur an, sich zu erinnern, nein, sie regen an, inne zu halten, zu vergleichen und in Frage zu stellen. Die Betrachtung des Porträts „Jutta Birkholz“ drängt mich zu der Frage, warum der arbeitende Mensch in unserer Gesellschaft so wenig Beachtung findet, während jeden Abend kurz vor der Tagesschau in allem Glanz die neuesten Börsennachrichten zelebriert werden. Keine heutige und keine künftige Gesellschaft wird ohne arbeitende Menschen auskommen. Es hat nicht immer Geld gegeben und es werden Zeiten kommen, die ohne Geld existieren. Der Staatssozialismus, so roh er war, hat tiefere Spuren gegraben, als wir selbst denken. Die Bilder, vor denen wir stehen, beweisen es. Sie verdienen es, in einen ernsteren Zusammenhang gestellt zu werden.
Aus Beeskow ist in diesem Sinne, ich formuliere einen alten DDR-Witz nach, noch vielmehr heraus zu holen. Die Kuratorin Elke Neumann hat für die Neuausrichtung des Kunstarchivs Beeskow eine Konzeption entwickelt, deren Ziel es ist, den Bestand noch stärker für reflektierte Erinnerungen und neue Perspektiven zu öffnen. Dazu werden bald die geplanten Veranstaltungen Gelegenheit geben. Und wer hier wem die Zeit umgestellt hat, bleibt offen…
Wir wünschen Ihnen anregende Stunden.
P.S. Hinter den fett–kursiv gesetzten Wörtern verbergen sich Links. Sollten Sie beim Lesen einen schlecht formatierten Text vorfinden, navigieren Sie auf dieser Seite auf einen anderen Artikel und gehen dann auf den aktuellen zurück.